Editorial / Vorwort

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Editorial zu Heft 1/2017 von Verbum SVD.

Christian Tauchner SVD

Noch einmal zu Interkulturalität

Der Begriff der Interkulturalität hat große Bedeutsamkeit für das missionarische Engagement gewonnen. Beim SVD-Generalkapitel im Jahr 2012 wurde der Vorschlag einer interkulturellen missionarischen Perspektive auch für die Steyler Missionare wichtig. Seither hat es bedeutende Veröffentlichungen zum Thema gegeben – zum Beispiel das zweibändige Werk von Lazar Stanislaus SVD und Martin Ueffing SVD – sowie eine Reihe von Workshops und Trainingsveranstaltungen. Es wurde schon viel erreicht, wenn man sich vor Augen hält, dass die anfängliche Auseinandersetzung mit dem Thema eher etwas schlicht war und sich auf das Austauschen von T-Shirts beschränkte oder in Gemeinschaften mit Kartoffeldiäten der Speiseplan mit einer Reisbeilage ergänzt wurde – wobei der Reis eigentlich ungenießbar gemacht wird, weil man ihn mit Salz kocht. Aber es hat auch wichtige Schritte auf ein tieferes Verständnis und eine bessere Praxis von interkulturellen Beziehungen und Perspektiven gegeben.
Eine solche Aktion auf dem Gebiet der Interkulturalität besteht in einem Preis, den die Philosophisch-Theologische Hochschule SVD St. Augustin für herausragende theologische Arbeiten auf dem Gebiet von Kultur und Alterität ausschreibt. Im Jahr 2015 wurde dieser Preis Judith Gruber, einer jungen österreichischen Theologin, die an der Loyola-Universität in New Orleans (USA) arbeitet und unterrichtet, für ihre Arbeit über den „cultural turn in der Theologie“ verliehen. Ihr Vortrag bei der Preisverleihung bildet den Ausgangspunkt dieses Hefts von Verbum SVD, zusammen mit der Laudatio durch ihren Doktorvater Franz Gmainer-Pranzl, der ihre Arbeit und die Aufgabenstellung einer interkulturellen Theologie und Missiologie umreißt.

Die Wurzeln der „Interkulturalität“

Das Programm einer interkulturellen Mission ist notwendigerweise ein Engagement auf lange Sicht – ein Detail, das oft und leicht vergessen zu werden scheint. Auch wenn der Begriff erst in jüngeren Jahren in den Vordergrund gerückt ist, zahlt es sich aus, sich in Er-innerung zu rufen, dass es Kardinal Joseph Ratzinger war, der diesen Begriff schon in den frühen 1990er-Jahren vorgeschlagen hat. Das geschah damals im Zusammenhang und in der Nachfolge der IV. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats in Santo Domingo 1992 mit ihrer Akzentuierung von Kultur und Inkulturati-on, als er den Begriff der Interkulturalität vorschlug, und das in spezifischer Gegenüberstellung zu Inkulturation.
Santo Domingo wurde in der spannungsreichen Atmosphäre des Gedenkens der 500 Jahre seit der Ankunft der Europäer in Amerika und ihrer komplexen geschichtlichen Folgen vorbereitet. Eine der Konsequenzen dieser „Feier der Entdeckung“, der „500 Jahre Evangelisierung“, der „Begegnung der Kulturen“ – ein Versuch von political correctness zur Verschleierung der brutalen Folgen dieser „Begegnung“ – oder der conquista und Invasion war ein Prozess der Bewusstseinsbildung über die lebendigen kulturellen Traditionen (Latein)Amerikas und die verstärkte Selbstbehauptung der indigenen und – in geringerem Ausmaß – der afroamerikanischen Kulturen. In Vorbereitung der Bischofsversammlung konzentrierte sich die katholische Kirche auf die Kulturen, um jede mögliche Referenz auf Befreiungstheologie und Basisgemeinden zu unterdrücken. In diesem Versuch, eine eigenständige lateinamerikanische Sichtweise von theologischer Reflexion und pastoralem Zugang zu kontrollieren, waren die wichtigsten und mächtigsten konservativen Repräsentanten des CELAM und ihre Verbündeten der Vatikankurie ein Jahrzehnt vorher bei der Konferenz von Puebla gescheitert. Daher wurden für Santo Domingo alle Anstrengungen unternommen, solche lateinamerikanischen Perspektiven zu unterdrücken. „Kultur“ und in Verbindung damit „Inkulturation“ erschienen als geeignete Werkzeuge dafür. Das erste Beratungsdokument für die Versammlung von Santo Domingo, das relativ spät vom CELAM Ende 1991 veröffentlicht wurde, verwendete ekklesiozentrische Kulturbegriffe und bezog sich immer noch auf eine „radikal katholische Substanz Lateinamerikas“. Die Versammlung wurde auch auf eine Weise organisiert, die einen doktrinalen Zugang favorisierte und die Methode Sehen–Urteilen–Handeln vermied, die in den Basisgemeinden und darüber hinaus gut eingeführt war. An ihrer Stelle sollten die „neue Evangelisierung“ – im Anschluss an den Vorschlag von Papst Johannes Paul II. in Haiti 1983 –, „menschlicher Fortschritt und christliche Kultur“ in den Mittelpunkt der Versammlung von Santo Domingo gestellt werden, scharf kontrolliert über einen doktrinalen Zugang durch lehramtliche Vorträge, die die Gespräche ausrichten sollten.
Wie Michael Huhn in seinem Beitrag hier in Erinnerung ruft, brachte der Begriff der Kultur sogar noch interessante Ergebnisse für die lateinamerikanischen Kirchen, weil viele Bischöfe ihre Erfahrungen im Umgang mit Kulturen und Inkulturation einbrachten und damit die lehramtlichen Zäune überwanden. Der Gedanke an Kulturen wurde damit sogar viel zu interessant und vielversprechend, weil die Kulturen mit ihren lebensbezogenen Kräften ins Zentrum pastoraler Planungen gerückt wurden. Joseph Ratzinger war unter den ersten, dem das kritische Potential der Kulturen und des Kulturbegriffs auffiel, das dann auch tatsächlich viel kritischer und somit „gefährlicher“ für den kirchlichen Apparat wurde als die befreiungstheologischen Sichtweisen je gewesen waren. Deswegen reiste Kardinal Ratzinger um die ganze Welt und versuchte das Feuer auszulöschen, bevor es sich zu einem Brand entwickeln und das kirchliche System ernsthaft in Frage stellen könnte. Tatsächlich kommt das Wort In-kulturation und Kulturen in lehramtlichen Äußerungen viele Jahre lang nach Santo Domingo nicht mehr vor.

„Der christliche Glaube vor der Herausforderung der Kulturen“

Kardinal Ratzinger hielt den gleichen Vortrag in verschiedenen Kontinenten und Umgebungen. Hier definiert er Kultur als „die geschichtlich gewachsene gemeinschaftliche Ausdrucksgestalt der das Leben einer Gemeinschaft prägenden Erkenntnisse und Wertungen … Kultur hat zunächst einmal mit Erkenntnis und mit Werten zu tun. Sie ist ein Versuch, die Welt und in ihr die Existenz des Menschen zu verstehen, aber ein Versuch nicht rein theoretischer Art, sondern vom fundamentalen Interesse unserer Existenz geleitet. … (12)
In der Frage nach dem Menschen und nach der Welt ist immer die Frage nach der Gottheit als die vorausgehende und eigentlich grundlegende Frage eingeschlossen. Man kann gar nicht die Welt verstehen, und man kann nicht richtig leben, wenn die Frage nach dem Göttlichen unbeantwortet bleibt. Ja, der Kern der großen Kulturen ist es, dass sie Welt interpretieren, indem sie die Beziehung zum Göttlichen ordnen.“ (13)
Kultur ist also das Ambiente des Menschen und der Gemeinschaft, das das Leben und die Werte ermöglicht, als wahrhafte Ausdrucksformen des Menschlichen. Von da aus erklärt Joseph Ratzinger Inkulturation: „Inkulturation setzt also die potentielle Universalität jeder Kultur voraus. Sie setzt voraus, dass in allen das gleiche menschliche Wesen am Werk ist und dass in diesem eine gemeinsame Wahrheit des Menschseins lebt, die auf Vereinigung abzielt. Nochmals anders ausgedrückt: Das Vorhaben der Inkulturation ist nur dann sinnvoll, wenn einer Kultur nicht Unrecht dadurch geschieht, dass sie aus der gemeinsamen Hinordnung auf die Wahrheit des Menschen heraus durch eine neue kulturelle Kraft geöffnet und weiterentwickelt wird … Die Höhe einer Kultur zeigt sich in ihrer Offenheit, in ihrer Fähigkeit, zu geben und zu empfangen, in ihrer Kraft, sich zu entwickeln, sich reinigen zu lassen und dadurch wahrheitsgemäßer, menschengemäßer zu werden.“ (12)
Wörtlich genommen sind diese abstrakten Begriffe von Kultur und Inkulturation recht interessant und gut annehmbar: Jede Kultur zeichnet sich durch ihre Offenheit Werten und dem Göttlichen, der Veränderung und dem Fortschreiten gegenüber aus und jede Kultur rührt „von einer Mitteilung vom Göttlichen her“ (13) – damit stünden alle Kulturen auf gleicher Höhe, „das Göttliche“ wird dabei noch nicht eng als der christliche Gott gefasst. Auf diese Weise würde dann die Kultur der Mestizenbevölkerung in einem Elendsviertel von Guayaquil oder in einem Dorf der Bhil in Gujarat lernen und sich entwickeln können durch den Kontakt mit einer Gruppe spanischer Missionare in der gleichen Weise wie die Kultur in einem Wiener Bezirk ein tieferes Verständnis des Göttlichen aus dem Kontakt mit den vietnamesischen Gemüseverkäufern gewinnen könnte. So ein Verständnis wird von der abstrakten Erklärung Joseph Ratzingers ermöglicht, auch wenn er selbst das sicher nicht so meinte. In diesem Kontext versteht er Inkulturation: „Die einzelnen Kulturen leben nicht nur ihre eigene Erfahrung von Gott, Welt und Mensch, sondern sie treffen auf ihrem Weg notwendig mit den anderen Kultursubjekten zusammen und müssen sich deren andersgearteten Erfahrungen stellen. So kommt es je nach Verschlossenheit oder Öffnung, je nach der inneren Enge oder Weite eines Kultursubjekts zur Vertiefung und Reinigung der eigenen Erkenntnisse und Wertungen. Das kann zu einer tiefgehenden Umwandlung der bisherigen Kulturgestalt führen, die aber keineswegs Vergewaltigung oder Entfremdung sein muss. Im positiven Fall erklärt sie sich aus der potentiellen Universalität aller Kulturen, die sich in der Aufnahme des anderen und in der Veränderung des eigenen konkretisiert. Ein solcher Vorgang kann geradezu dazu führen, dass die stillen Entfremdungen des Menschen von der Wahrheit und von sich selbst aufgebrochen werden, die in einer Kultur liegen. Er kann das heilende Pascha einer Kultur sein, die im scheinbaren Sterben aufersteht und erst ganz sie selber wird.“ (14f)
Mit diesem Schritt wird Inkulturation aus dem Gleichgewicht gebracht und zum Kontakt zwischen zwei oder mehreren existierenden Kulturen gemacht, mit all ihren Machtunterschieden und Überlegenheitsansprüchen, die gegen die vorgebliche Gleichheit von Kulturen gehen, wie sie vorher beschrieben wurde. Dazu wird eine „christliche“ Kultur – etwas, das es in Wirklichkeit nicht gibt, sondern eine ethnozentrische Vorstellung ist, die in der Vorbereitung auf Santo Domingo besonders verwendet wurde – eingeführt, die höher gestellt wird als andere Kulturen. Joseph Ratzinger spricht nicht ausdrücklich von Superiorität, sondern versucht den Problemen auszukommen, indem er ein „Volk Gottes“ als Träger einer solchen „christlichen“ Kultur einführt: „Als erstes müssen wir feststellen: Der Glaube selbst ist Kultur. Es gibt ihn nicht nackt, als bloße Religion. Einfach indem er dem Menschen sagt, wer er ist und wie er das Menschsein anfangen soll, schafft Glaube Kultur, ist er Kultur … Der Glaube ist selbst Kultur. Das bedeutet dann auch, dass er ein eigenes Subjekt ist: eine Lebens- und Kulturgemeinschaft, die wir ‚Volk Gottes’ nennen … (17)
Demnach sollten wir nun eigentlich nicht mehr von Inkulturation, sondern von Begegnung der Kulturen oder – wenn ein Fremdwort nötig sein sollte – von Interkulturalität sprechen. Denn Inkulturation setzt voraus, dass ein gleichsam kulturell nackter Glaube sich in eine religiös indifferente Kultur versetzt, wobei sich zwei bisher fremde Subjekte begegnen und nun eine Synthese miteinander eingehen … Nur wenn die potentielle Universalität aller Kulturen und ihre innere Offenheit aufeinander hin gilt, kann Interkulturalität zu fruchtbaren neuen Gestalten führen.“ (15)
Natürlich ist es Joseph Ratzinger trotz seines idealistisch abstrakten Zugangs bewusst, dass solche auf Gleichheit beruhende interkulturelle Begegnungen praktisch unmöglich sind, wegen eines „Negativ-Faktors in der menschlichen Existenz […]: eine Entfremdung, die Erkenntnis hindert und die Menschen wenigstens partiell von der Wahrheit und damit auch voneinander abschneidet“. (16)
Joseph Ratzinger findet folgenden Ausweg – zunächst einen abstrakt idealistischen Weg, der sich jedoch sofort in einen praktischen Zwang verwandelt: „Denn quer durch die Kulturen geht das Wissen um die Verwiesenheit des Menschen auf Gott und auf das Ewige; das Wissen um Sünde, Buße und Vergebung; das Wissen um Gottesgemeinschaft und ewiges Leben und schließlich das Wissen um die sittlichen Grundordnungen, wie sie im Dekalog Gestalt gefunden haben.“ (25)

Was als Aufgabe bleibt

Inkulturation gründet in den Möglichkeiten von Veränderung, die von den Subjekten jeder Kultur selbst als den verantwortlich Handelnden und Gestaltenden umgesetzt werden. Daher kann das Ergebnis kultureller Erneuerung nicht vorausgesagt werden. Das schließt die „Gefahr“ ein, dass eine Kultur in Zukunft eventuell nicht „christlicher“ wird oder dass eine angeblich „christliche“ Kultur sich in eine andere Richtung entwickelt. Gegen eine solche Annahme, dass jeder Mensch in seiner eigenen kulturellen Entwicklung tat-sächlich einen Zugang zur Erfahrung des „Göttlichen“ hat – und immer schon hatte – wurde nach der Versammlung von Santo Domingo eine striktere doktrinale Haltung durchgesetzt. Die Verwirrung mit dem Umgang mit „Kultur“ war in der Tat so umfassend, dass die Folgeversammlung des lateinamerikanischen Episkopats erst für 2007 organisiert wurde und die Jüngerschaft und Mission in den Mittelpunkt stellte (in Aparecida, Brasilien).
Damit Interkulturalität für die Mission und das Gemeinschaftsleben funktionieren kann, werden die idealistischen Sichtweisen einer abstrakten Anthropologie einem praxisorientierten Engagement weichen müssen. Das eigene Bewusstsein über den eigenen kulturellen Hintergrund wird eine Menge von Nachdenken und Austausch mit den „anderen“ verlangen. Die Kultur am Ort – von den brasilianischen Regenwäldern bis zu den postmodernen Bedingungen der Megacities São Paulo, Beijing oder Berlin – bleibt der unausweichliche Bezugspunkt für alle handelnden Subjekte, die aus allen Richtungen der Erde zusammenkommen. Zweifellos sollte Interkulturalität nicht zu einem Vorwand verkommen, den Kontakt, die kritische Auseinandersetzung und das Eintauchen in die tiefen Wasser der lokalen Kultur zu vermeiden, die überall auf der Welt umfassenden Wandlungsprozessen ausgesetzt sind.
Die Beiträge dieses Hefts von Verbum SVD verstehen sich als ein Beitrag zu dieser missionarischen Aufgabe, von den theoretischen Überlegungen von Theologen und Historikern bis zu Missionaren wie dem ehrwürdigen Pater Mantovani SVD oder dem jungen Forscher Severin Parzinger SVD.

Seite im Heft 5ff.