Editorial / Vorwort

Vorwort zu Heft 1-2/2018 von "Verbum SVD".

Christian Tauchner SVD

1968 – ein Big Bang für eine bessere Welt?
Eines der ersten großen Ereignisse des schillernden Jahres 1968, das die Aufmerksamkeit der ganzen Welt erregte, was die erfolgreiche Herztransplantation am 2. Januar in Kapstadt (Südafrika): Der Körper des 24-jährigen Clive Haupt blieb im Groote-Schuur-Spital in der Abteilung für „Farbige“ liegen, aber sein Herz durfte in die Abteilung für „Weiße“ des Spitals gebracht werden und dort das erschöpfte Organ Philip Blaibergs ersetzen. Nach einer dramatischen Operation, die acht Stunden dauerte und einen totalen Stromausfall auch im Operationssaal einschloss, konnte der Eingriff als Erfolg verkündet werden; Blaiberg lebte mit dem neuen Herzen noch eineinhalb Jahre.
Könnte man diese Transplantation als Metapher für einen neuen Herzschlag einer besseren Welt ansehen, die sich für die Jahre nach 1968 ankündigte? Zunächst sah es nicht so aus: Das neue Operationsverfahren stellte sich als wenig brauchbar heraus, da es keine Heilmittel gab, um den Körper daran zu hindern, ein „fremdes“ Organ abzustoßen; erst Jahre später wurden Medikamente entwickelt, die das Immunsystem unterdrücken können und heutzutage werden alle Jahre etwa 4 000 Herzen weltweit transplantiert. Das Apartheidsystem in Südafrika bestand ebenfalls noch lange Jahre, bevor es abgeschafft wurde, und obwohl wir heute in einer Zeit extremer Bewegungsfreiheit leben, werden wir Zeugen der Errichtung neuer Zäune und Mauern in vielen Ländern.

Ich habe eine Liste von herausragenden Ereignissen des Jahres 1968 zusammengestellt – ohne Anspruch auf Objektivität, selbstverständlich –, viele davon mit bleibenden Folgen bis heute:
– Die Tet-[Neujahr]-Offensive (30. Januar bis September) im Vietnamkrieg;
– die Beatles ziehen sich in den Aschram des Maharishi Mahesh Yogi in Rishikesh (Indien) zurück (ab dem 16. Februar);
– das Massaker der US-Armee von My Lai (Vietnam) (16. März);
– Stanley Kubricks Film „2001: Odyssee im Weltraum“ (2. April);
– Martin Luther King wird in Memphis, Tennessee (USA), ermordet (4. April);
– der deutsche Studentenführer Rudi Dutschke wird in Berlin angeschossen (11. April), Studentenunruhen in vielen Städten sind die Folge;
– Uraufführung des Musicals „Hair“ am Broadway (New York) (29. April);
– Studentenunruhen in Paris (ab dem 6. Mai) und Generalstreik in Frankreich;
– Daniel Berrigan SJ, sein Bruder Phil Berrigan SSJ und eine Gruppe von Friedensaktivisten verbrennen Einzugsbefehle als Protest gegen den Vietnamkrieg, in Catonsville (USA) (17. Mai);
– Ermordung Robert Kennedys (5. Juni);
– Biafra (Nigeria) erklärt seine Unabhängigkeit (6. Juli), Krieg und Hunger folgen;
– Veröffentlichung von Humanae Vitae (Vatikan) (25. Juli);
– Panzer des Warschauer Pakts walzen den Prager Frühling nieder (Tschechoslowakei) (21. August);
– Konferenz des Lateinamerikanischen Episkopats in Medellín (Kolumbien) (26. August bis 8. September);
– Massaker von 200 bis 300 friedfertig protestierenden Studen-ten in Tlatelolco (Mexiko) (2. Oktober);
– Vorstellung eines „Personal Computers“ mit „Maus“ und „Bildschirm“ in San Francisco (USA) (9. Dezember);
– Thomas Merton stirbt in Bangkok, Karl Barth in Basel (10. Dezember);
– „Erdaufgang“ [Earth rise], eine Fotografie der Erde vom Mond aus gesehen (24. Dezember).

Natürlich werden andere ihre eigene Liste von herausragenden Ereignissen von 1968 zusammenstellen. Viele Steyler Missionare würden ihre Priesterweihe oder Gelübde in diesem Jahr in den Mittelpunkt stellen. Für diese Ausgabe von Verbum SVD haben wir manche von denen angefragt, die mehr oder weniger heuer ihr goldenes Jubiläum feiern. Einige von ihnen haben ihre Zeit und Erinnerung der Aufgabe gewidmet, die Beweggründe und Ideale von damals ins Gedächtnis zu rufen und nachzudenken über die Entwicklungen seither: Was ist aus den Utopien, Träumen, Wünschen und Erfolgen von „1968“ geworden? Worin besteht ihre Bedeutung bis heute? Ihre Überlegungen haben sie in den Beiträgen dieser Ausgabe niedergeschrieben.

Manche von den Steylern, die wir angefragt haben, hatten die Freundlichkeit zu antworten, auch wenn sie der Einladung nicht nachkommen konnten. Andere teilten uns mit, wie interessant es für sie geworden ist, auf diese alten Tage mit ihren Idealen zurückzukommen, selbst wenn manche der damaligen Konflikte heute ein wenig lächerlich wirken. „Wir sollten uns treffen und einige Zeit da-mit verbringen, uns diese Zeit in Erinnerung zu rufen, mit ihren Idealen und Träumen“, haben mehrere geschrieben. Für ein paar von ihnen war es auch ein Anlass, mit ehemaligen Steylern wieder in Kontakt zu treten und auf die gemeinsam verbrachten Zeiten zurückzukommen – Vincent Fox und Edicio dela Torre habe ihre Überlegungen sogar als Beiträge verfasst.

Die Sichtweisen zu „1968“ gehen weit auseinander und die „reflektierte Erinnerung“, zu der wir in unserer Einladung aufgerufen hatten, weist in diesen Beiträgen wieder einmal auf die reiche Vielfalt unter Steyler Missionaren hin, die zu einer einzigen Kongregation gehören.

Wenn also das Jahr 1968 mit einem „neuen Herzen“ anfing, endete es irgendwie mit einem „Erdaufgang“ des „blauen Planeten“, eine erstaunliche Sichtweise auf unsere Welt aus einem neuen Blickwinkel: Auf der vierten Umrundung des Mondes sah William Anders an Bord der Apollo 8, wie die Erde über dem Horizont des Mondes aufging. Am 24. Dezember um etwa 11:40 Uhr (Kennedy-Space-Center-Zeit, Florida) machte er das berühmte Foto des blauen Planeten: Der Blick auf die Erde vom Mond aus, ein blauer und leuchtender Tupfen vor dem tiefschwarzen Hintergrund des endlosen Raums. Die Apollo-Mannschaft soll kommentiert haben:
Anders: Oh, mein Gott! Seht euch das an! Die Erde geht auf. Mensch, das ist großartig!
Borman: Hey, nicht fotografieren, das ist nicht vorgesehen. (Gelächter) (vgl. Interneteinträge zu „Earthrise“, „Erdaufgang“ und „Apollo 8“).

Wahrscheinlich ist es „nicht vorgesehen“ – und kann nie befohlen werden –, die Schönheit und Zerbrechlichkeit unserer Welt in einem großen Zusammenhang wahrzunehmen oder einen anderen Zugang zu ihr zu wählen, bei allen unseren Traditionen und Projekten. Das Jahr „1968“ hat irgendwie die Basis und Sichtweisen für Kirche und Gesellschaft verschoben. Jetzt, fünfzig Jahre später, haben die Aussichten und Bedeutung von Utopien und Träumen unserer Vergangenheit und Gegenwart eine andere Gestalt angenommen in unseren eigenen kleineren Kontexten. Wir können unsere Welt nicht mehr nur innerhalb der alten Rahmenbedingungen verstehen, wir stehen auf anderen Grundlagen und sind herausgefordert, unseren Ort innerhalb ständig sich verändernder Kontexte zu finden. Hoffentlich können wir uns dem Ausruf von William Anders anschließen: „Mensch, das ist großartig!“

Seite im Heft 5ff.