Editorial / Vorwort

Verbum SVD 3/2018 befasst sich u. a. mit dem Engagement der Steyler Missionare im Bereich der Menschenrechte.

Christian Tauchner SVD

Menschenrechte – die Suche nach einer gemeinsamen Grundlage
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Das ist der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die vor 70 Jahren von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 (Resolution 217 A [III]) angenommen und verkündet wurde. Die Erklärung schließt eine Präambel mit sieben Begründungen und eine Liste von 30 Artikeln ein, in denen der Inhalt der Menschenrechte dargelegt wird.

In den 70 Jahren seit dieser Erklärung haben viele Staaten diese Prinzipien in ihre Verfassungen aufgenommen und in Gesetze und Vorschriften integriert, auch wenn diese Menschenrechte oft nicht juristische Vorgaben geworden sind, die sich auf internationaler Ebene einfordern ließen. Aber es gibt viele positive Entwicklungen weltweit. Im Lauf der Jahrzehnte hat sich der Bereich dieser Rechte ausgeweitet und neue Themen angesprochen wie das Recht auf Frieden oder auf gesunde Umwelt (die „dritte Generation“ von Menschenrechten, nach manchen Kategorisierungen).

Die Menschenrechte sollte man als eine Grundlage für menschliche Entwicklungsmöglichkeiten sehen können, aber sie kommen oft erst im Spiegel ihres Missbrauchs in den Blick. Sie erscheinen in Momenten, wenn jemand in seinen Rechten beschnitten und behindert wird oder wenn ganze Bevölkerungsgruppen darunter leiden, dass sie von der Ausübung ihrer Grundrechte ausgeschlossen werden. Normalerweise finden solche Verletzungen „dort“, in weit entfernten Ländern und Kulturen statt, denn die Information über den Missbrauch tendiert zu weiterem Missbrauch (man würde in einem Land wie Nordkorea nicht dagegen protestieren, um ein offensichtliches Beispiel zu zitieren).

Die Ausarbeitung der Menschenrechte ist keine Erfindung allein der Vereinten Nationen oder des „zivilisierten Westens“ oder der christlichen Tradition Europas. Es gibt verschiedene Mythen im Zusammenhang mit dem Begriff der Menschenrechte und sie scheinen überaus zählebig zu sein, wie die amerikanische Politologin Susan Waltz 2002 darstellte. Sie zählt vier solche Mythen auf: (1) dass die Erklärung ausschließlich als Reaktion auf den Holocaust aufzufassen sei; (2) dass die Arbeit an ihr vor allem von den Großmächten USA, Großbritannien und Sowjetunion getragen worden sei; (3) dass es ein eindeutig identifizierbares Individuum sei, dem wir den Text der Erklärung verdanken [der französische Jurist René Cassin]; und (4) dass vor allem die USA zum Erfolg der Erklärung beigetragen hätten (s. Susan Waltz, Reclaiming and Rebuilding the History of the Universal Declaration of Human Rights: Third World Quarterly 23 [2002] 437-448, zitiert in Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, 266). Hans Joas (s. seine Sakralität der Person und Sind die Menschenrechte westlich?, München 2015) behauptet, dass aller Fortschritt und alle Verpflichtung den Menschenrechten gegenüber immer viel zu leicht unterlaufen und umgangen werden kann in Situationen, in denen ein System sich bedroht fühlt, zum Beispiel durch „islamistischen Terror“ oder aufgrund von Überlegungen zur öffentlichen Sicherheit. Westliche Staaten haben geheime Gefängnisse toleriert und eingeführt, sie haben die Folter geduldet: Guantanamo und Abu Ghraib sind die Realsymbole solchen Scheiterns und leider muss man sagen, die neueren Diskussionen in Deutschland und anderen europäischen Staaten zu Migranten und Flüchtlingen suchen Umgehungswege um die Menschenrechte herum.

Für Hans Joas gründet die weitreichende Annahme von Menschenrechten auf gemeinsamen Werten und einer „Wertegeneralisierung“ über die Grenzen von unterschiedlichen Kulturen und Traditionen hinweg. Das ermöglicht, dass jede religiöse oder kulturelle Tradition in der eigenen Identität begründet bleiben und sich trotzdem „universalen“ Menschenrechten verpflichten kann. Auf diese Weise kommt eine lange Geschichte zum Vorschein, in der sich schließlich die Menschenrechte entwickelten, von der Achsenzeit etwa sechs Jahrhunderte vor Christus angefangen, und nicht nur in Griechenland, sondern auch im konfuzianischen Denken, im Buddhismus und Hinduismus. Anstatt den christlichen Glauben oder das Denken der Aufklärung oder die Französische Revolution als singuläre Quelle für die Menschenrechte zu nehmen, schlägt Joas vor, „die Menschenrechte und den sie fundierenden Glauben an eine universale Menschenwürde als das Ergebnis eines spezifischen Sakralisierungsprozesses aufzufassen, d. h. eines Wandels, in dem jedes einzelne menschliche Wesen mehr und mehr und in immer stärker motivierender und sensibilisierender Weise als heilig angesehen und dieses Verständnis im Recht institutionalisiert wurde.“ (Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, 12) Diese Sakralität ist umfassender als ein nur religiöser Zugang, sie ist ganzheitlich und universal.

Ein solches Verständnis des Menschen als heilig muss als Wert entwickelt und es kann nicht ein für allemal hergestellt werden. Es braucht ständige Erneuerung, Rekonstruktion und Bestätigung. Die aktuelle Versuchung der Politik, manche Menschenrechte in gewissen Fällen auszuklammern (aufgrund der Unteilbarkeit ohnehin undenkbar!) hat wahrscheinlich viel damit zu tun, dass die gemeinsame Wertebasis nicht mehr tragfähig ist – in Deutschland zeigt sich das speziell bei den „christlichen“ Parteien, die offensichtlich Schwierigkeiten haben, christliche Werte mit kurzfristigen politischen Erfolgsaussichten zu verbinden, und andere rechtsgerichtete politische Gruppierungen berufen sich ohne Zweifel auf christliche Identitäten für ihre unmittelbaren politischen Interessen. Die Teilnahme an der öffentlichen Diskussion und das Herausarbeiten von gemeinsamen Werten und ihrer praktischen Umsetzung in unseren Gesellschaften ist immer noch eine wichtige Aufgabe für jeden Bürger.

Die Propheten und Intellektuellen („Priester“) der Sakralität verkünden ihre Sichtweise vom Unterschied zwischen den Gesetzen des Himmels angesichts der behaupteten göttlichen Legitimität der Herrscher und Mächtigen. Da ist es wenig überraschend, dass sie leicht der Verfolgung ausgesetzt werden: Buddhas Lehre wurde als ein Angriff auf das Kastensystem verstanden und seine Nachfolger wurden aus dem Land gejagt, die konfuzianischen Kritiker der Herrscher wurden oft bei lebendigem Leib begraben, Christen wurden im römischen Reich und unter vielen anderen Regimen bis zum heutigen Tag verfolgt …

Die Steyler Missionare messen den Menschenrechten für ihre Missionsaufgabe eine hohe Bedeutung zu, oft ohne diesen Bezug explizit herzustellen, obwohl es auch in jüngerer Zeit Beispiele von Verfolgung und Leiden aufgrund ihres Engagements für Menschenrechte gibt.

In dieser Ausgabe von Verbum SVD behandeln einige Beiträge das Engagement auf dem Gebiet der Menschenrechte. Der Koordinator für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung in der Generalleitung der Kongregation, Daisuke Narui SVD, stellt diese Sichtweise dar und beleuchtet einige der Aufgaben, die die Steyler auf diesem Gebiet zu ihrer Option gemacht haben.

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Seite im Heft 211ff.