Editorial /Vorwort

Einführung in Verbum SVD 4/2018, dessen Artikel sich mit dem Thema Ambiguität und Offenheit befassen.

Christian Tauchner SVD

Der diskrete Charme der Vereindeutigung
In Situationen von Ambiguität zu leben ist schwer. Der Mensch tendiert dazu, Ambiguität zu vermeiden und zu verringern, oft ist diese Tendenz in Reflexe eingebaut: Ich brauche keine Entscheidung zu treffen, meine Hand von der heißen Kochplatte zurückschnellen zu lassen, denn der lange Weg durch das Gehirn und Bewusstsein zur Entscheidung, ob die Hitze gut oder gefährlich ist, würde zu lange dauern. Die Soziologie und Kommunikationsforschung haben wichtige Anstöße von diesen Anforderungen an Ambiguitätsreduktion erhalten, in denen es darum ging sicherzustellen, dass Informationen fehlerfrei auf der anderen Seite ankamen; diese Wissenschaften entwickelten sich im Kontext des Militärs und des Zweiten Weltkriegs, wo es natürlich um klare und zweifelsfrei verständliche Befehlsketten ging. Später weitete sich diese Forschung auf den Infor-mationsfluss überhaupt aus (Paul Lazarsfeld war ein herausragender Pionier auf diesem Gebiet). Die Absicht bestand darin, zu einfachen und klaren Resultaten zu kommen. Heutzutage gibt es Programme und Gebrauchsanweisungen, um jedes Problem zu „simplifizieren“ – manchmal eine interessante Übung, aber genauso oft kein sinnvoller Zugang zu tatsächlich komplexen Fällen.
Auf der anderen Seite leben wir heute in einer Zeit von Vielfältigkeit, Pluralismus und unglaublichem Überfluss (absolut oder wenigstens im Vergleich zu früher). Als es nur die Möglichkeit gab, eine Art von Bleistift, von Notizheft, von Brot zu kaufen oder ein einziges Programm im Radio zu hören, in der „guten alten Zeit“, war das zwangsweise Einfachheit. Heute laufen die Läden und Internetseiten von unvorstellbaren Mengen von Produkten über, jedes Smartphone hat Zugang zu Hunderten von Informationsquellen, Unterhaltungskanälen und Spielen – und wir werden gezwungen und oft überfordert, uns im Dickicht zurechtzufinden und eventuell zu einer sinnvollen Auswahl zu kommen.
Diese Reichhaltigkeit und Vielfalt haben allerdings ihren beachtenswerten Preis. Die zwanzig verschiedenen Brotsorten im Supermarkt sind alle nach zwei Tagen ungenießbar (wenn sie denn so lange halten). Es herrscht eine Tendenz zur Vereinheitlichung von Geschmäckern und Inhalten. „Zwar gibt es heute mehr Müsli- und Kartoffelchipssorten denn je. Dennoch bekommen wir immer mehr Einheitsbrei vorgesetzt“, überlegt Thomas Bauer in einer faszinierenden Abhandlung über den Verlust an Mehrdeutigkeit. „30 000 Maissorten gab es einst weltweit“, führt er aus, „doch nur ein paar Dutzend davon werden im größeren Stil angebaut, gentechnisch veränderte Pflanzen dominieren …. Von den einst 20 000 Apfelsorten bekommen Kunden heute höchstens noch sechs Sorten angeboten …. Wenn allein zwischen 1970 und 2005 die biologische Vielfalt unserer Erde um 27 Prozent abgenommen hat, kann unsere Zeit kaum eine Zeit der Vielfalt sein!“, schließt er.
Es wird uns vorgegaukelt, dass wir tatsächlich Wahlmöglichkeiten auf einem weiten Feld von Optionen in allen Bereichen unseres Lebens haben, aber in Wirklichkeit gibt es starke – eigentlich fast unwiderstehliche – Tendenzen zur Vereinheitlichung und Vereindeutigung. Das ist ziemlich offensichtlich in jedem Supermarkt, aber Bauer sieht die gleiche Tendenz auch auf anderen Gebieten und führt den Bedeutungsschwund der Lyrik gegenüber den Krimis als Beispiel an (S. 112): Lyrik lebt von Ambiguität und daher Offenheit für Interpretation und Bedeutung, dagegen müssen Krimis (und die entsprechenden Versionen im Fernsehen) den Mörder finden, also Ambiguität auf Eindeutigkeit reduzieren. In manchen Ländern ist Fußball nicht so beliebt, denn dort können die Spiele unentschieden ausgehen und die Ambiguität bleibt erhalten (man weiß nicht, wer gewonnen hat) (S. 22). Und Sport ohne Gewinner (also wenn man selbst im Park laufen geht) ist sowieso nicht der Rede wert (außer man trägt das entsprechende dazugehörende modische Outfit und möchte damit angeben). Sogar die Kunst ist dazu verdammt, ihr schöpferisches Potential zu verlieren und wird gezwungen, sich auf die vereinfachte Umgangsweise über Kommerz, Marketing und Eventcharakter zu verlegen: Die Durchschnittszeit, die Museumsbesucher einem Gemälde widmen, ist gerade einmal elf Sekunden (S. 71) – da gibt es keine Möglichkeit, die Vielschichtigkeit eines provokanten Kunstwerks einwirken zu lassen. Die Bedeutung wird eher über den Markt vermittelt: „Unglaublich, dieses Gemälde ist so viele Millionen wert …“ (S. 69f.).
Ambiguität ermöglicht und fordert sogar Offenheit, Betrachtung und Reflexion. Nicht alles ist klar – wenigstens noch nicht. Die Religion und die Kirchen sind Freiräume für Ambiguität, für Offenheit und die Verhandlung von Bedeutung. Sie sind von der Ambiguität abhängig, denn sie beziehen sich grundsätzlich auf etwas Transzen-dentes, das nicht vollständig gefasst werden kann. Es gibt etwas Ge-heimnisvolles – ein Mysterion –, dem seine verhüllte Eigenheit nicht verloren geht, selbst wenn es sich offenbart. Es geht weit über die Sehnsucht nach vereinfachten und zweifelsfreien Lösungen im Hier und Jetzt hinaus, die das Drücken des „Like“-Buttons ermöglicht. Dieser Drang, die Vielschichtigkeiten unserer Welt zu vereindeuti-gen, wird von der kapitalistischen Produktionsstruktur gefördert und führt schließlich zu Fundamentalismus und Individualismus. Die allgegenwärtigen Social Media verstärken diese Tendenz über ihre Tweets und Likes und behindern umfassendere soziale Begegnungen und Austausch im wirklichen Leben – man bezieht sich virtuell nur auf die eigene Gruppe, die die gleichen Meinungen vertritt und verliert den Kontakt zu anderslautenden und herausfordernden Sichtweisen in einer „Öffentlichkeit“.
In gewisser Weise hat diese Ausgabe von Verbum SVD mit Ambiguität und Offenheit zu tun: Ein Artikel beschäftigt sich mit der Herausforderung, eine „Kultur der Begegnung“ anzunehmen und aufrechtzuerhalten (Stephen Bevans) – das lateinische Wort cultura kommt von colere und meint, was man pflegen, pflanzen, behüten, wachsen lassen muss; es ist eine Art Befehl auf Zukunft. Begegnun-gen mit Menschen werden immer offen und ambig bleiben – Gott sei Dank. Auch Volksfrömmigkeit und Volksglaube (Ambrose Mong) bewegen sich in diesem Gebiet von Offenheit. Schließlich gehört dazu auch der Beitrag von Konrad Kebung über die indonesische Staatsphilosophie Pancasila, der zeigt, wie sich ein Staat für einen vielfältigen Zugang zu Identität entschied und damit Ambiguität zulässt.
Das letzte Generalkapitel der SVD inspirierte sich aus der Tradition: Unser Name ist unsere Mission! ist vielleicht das wichtige Stichwort des Kapitels. In einer kleinen Diskussionsrunde an unserem Institut war dieses Leitwort Anlass für einen engagierten Gedankenaustausch: Hat dieses Leitwort eine klare Bedeutung? Ist daran etwas neu? Haben wir uns denn in der Vergangenheit missionarisch engagiert außerhalb „unseres Namens“? Oder ist dieses Leitwort ein höchst ambiger Ausdruck, der es uns erlaubt, alles Mögliche (wie immer) zu tun, jetzt eben „im Namen von“? Fordert das Leitwort, dass für unser Handeln ein Name geoffenbart wird? In unserer Glaubenstradition ist die Offenbarung eines Namens eine verzwickte Angelegenheit (siehe Ex 3,13-14) und kann zu einer Menge von Durcheinander führen, wie jeder Befreiungsprozess.
Gegen den Geist unserer postmodernen individualistischen Tendenz, dass jeder seinen eigenen Plan in unzweideutiger Klarheit durchführt, ist das Ansinnen, die Elemente unserer Sinnsuche in Schlichtheit durchzubuchstabieren, tatsächlich attraktiv. Das würde bedeuten, mit denen außerhalb unserer kleinen Gruppe in Beziehung zu bleiben, um sie zu verstehen, wenn sie nach der Begründung un-serer Hoffnung fragen (vgl. 1 Petr 3,15). Solche Begründung und solche Hoffnung wird immer vielschichtig und vieldeutig bleiben, weil sie sich auf wirkliche Menschen bezieht, und genau deswegen ist sie der feste Grund für unser Engagement – und das ist ziemlich charmant.

Die Seitenzahlen beziehen sich auf: Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart: Reclam 2018.

Seite im Heft 333ff.