Editorial / Vorwort

Einführung in Heft 4/2019 von Verbum SVD.

Christian Tauchner SVD

Samenkörner und Früchte
Zu den besser bekannten Eigenheiten der Kirche in Amazonien gehören die unglaublich weite Ausdehnung und in der Folge die großen Distanzen zwischen den Gemeinden. Vor vielen Jahren hatte ich die Gelegenheit, einen unserer älteren Steyler Missionare auf einem kurzen Besuch einer Gemeinde zu begleiten, natürlich in einem Boot zu einer Kapelle, die auf Stelzen stand, zu jenem Zeitpunkt mitten im Wasser der unendlichen Flüsse. Die pastorale Arbeit von Pater Josef Gross bestand in langen Reisen zu den Gemeinschaften mit dem Schiff der Pfarrei entlang der Flüsse, die in den mächtigen Tapajós münden, „in der Nähe“ von Santarém. Auf diesen Fahrten von einer Gemeinde zur nächsten hatte er viele Stunden lang „nichts zu tun“, er hat wahrscheinlich gebetet, meditiert, die üppige Vegetation betrachtet – all das im stickig heißen und feuchten Klima unter der brennenden Sonne. Auf diesen Reisen entwickelte er ein besonderes Interesse an Pflanzen. In seinen Notizheften hielt er die Beobachtungen fest und hatte schließlich eine Liste von ungefähr 400 verschiedenen Pflanzen, erzählte er mir. Viele dieser Pflanzen hatten sich an die unterschiedlichen Wasserstände angepasst und entsprechend lange Stiele entwickelt, um auch im Hochwasser der Regenzeit gedeihen zu können. Ihm fiel auch eine Menge von verschiedenen Früchten an den Büschen, Hecken und Bäumen an den Flussufern auf, die er nicht kannte. Manche davon konnte er nicht einmal katalogisieren und einer bekannten Pflanzenart zuordnen (er erhob keine Ansprüche auf Entdeckungen und Namensgebungen neuer Pflanzen). Er fragte sich, ob diese Früchte irgendwie brauchbar und eventuell genießbar wären. Wenn er sie nicht zuordnen konnte und nicht wusste, ob sie giftig oder essbar waren, verließ er sich auf die Beobachtung der Affen: „Wenn die Affen drangehen, kannst du es auch einmal versuchen …“ Auf diese Weise fand er eine Menge essbarer Früchte, manche davon recht schmackhaft, andere eher unauffällig und unscheinbar, aber trotzdem recht interessant.

Vielleicht ist das eine Metapher für den Umgang mit ungewohnten Kulturen: Betrachtung, Offenheit, Interesse und aufmerksame Beobachtung sind Schlüsselhaltungen für die Entdeckung der tieferen Schichten und Bedeutungen. Erst dann wird es zu einer ersprießlichen Begegnung und Dialog mit Menschen von solch verschiedener Herkunft kommen können. Vielleicht wird das Ergebnis solcher Begegnungen nicht unbedingt spektakulär sein. In manchen Fällen wird man sich auf „a little help from my friends“ (ein bisschen Hilfe von meinen Freunden) verlassen müssen, wie es im Lied der Beatles heißt. Eine solche Haltung von Offenheit hat in der Kirche eine lange Tradition – seit den ersten Jahrhunderten ist die Rede von den „Samenkörnern des Wortes“ als einem grundsätzlich positiven Zugang zu den anderen in ihren Kulturen und Weltanschauungen.

In Vorbereitung auf die Bischofssynode zu Amazonien (Oktober 2019) engagierten sich die Kirchen dort in einem sehr intensiven Reflexionsprozess. Es heißt, dass sich um die 87.000 Menschen in Treffen, Vorträgen, Befragungen, Diskussionsgruppen und Versammlungen einbrachten. Das Ergebnis ist ein ausgezeichnetes Dokument, das „Vorbereitungsdokument“, das von der Brasilianischen Bischofskonferenz 2018 veröffentlicht wurde. Darin blieben die Gemeinschaften nicht bei der Annahme von „Samenkörnern“ stehen, sondern hielten fest, dass es auch „Früchte“ gibt. Sie stellen fest:
"Eine Kirche mit amazonischem Gesicht zu ermutigen heißt für die Missionare, fähig zu sein, die bereits im Leben und in der Weltsicht dieser Völker enthaltenen Samenkörner und Früchte des Wortes zu entdecken. Dafür bedarf es einer beständigen Präsenz, der Kenntnis der einheimischen Sprachen, Kulturen und Spiritualitäten. Nur so wird die Kirche das Leben Christi in diesen Völkern erfahrbar machen."
Das Instrumentum laboris greift diese Sichtweise im Abschnitt über die „Evangelisierung der Kulturen“ im Teil über „Eine prophetische Kirche in Amazonien: Herausforderungen und Hoffnungen“ auf:
"Der Schöpfer Geist, der den Erdkreis erfüllt (vgl. Weish 1,7), hat die Spiritualität dieser Völker über Jahrhunderte hinweg lebendig erhalten, noch bevor das Evangelium zu ihnen kam, und hat sie dazu gebracht, ihn mit Hilfe ihrer eigenen Kulturen und Traditionen zu ehren. Die in ihnen erkennbaren „Saatkörner des Wortes“ hat die Verkündigung des Evangeliums also zu respektieren. Sie wird auch anerkennen, dass in vielen von ihnen der Samen bereits gewachsen ist und Früchte getragen hat. Dafür ist ein respektvolles aufmerksames Hinhorchen erforderlich, das keine Glaubensformulierungen diktiert, die aus anderen kulturellen Bezügen stammen und daher dem konkreten Lebenskontext der Völker nicht entsprechen. Im Gegenteil, die Verkündigung des Evangeli-ums hört „auf die Stimme Christi […], die durch das ganze Volk Gottes spricht“ (EC 5).
Man sollte sich vor Augen halten, dass das Instrumentum laboris im Vatikan auf der Grundlage des Vorbereitungsdokuments erarbeitet wurde, das aus den Ortskirchen Amazoniens hervorgegangen war. Die ganz neue Postsynodale Exhortation Querida Amazonia bezieht sich auf diese Beziehung und Herausforderung mit einem vorsichtigeren Verweis auf Evangelii gaudium 116:
"Auf der anderen Seite erlebt die Kirche dabei selbst einen Prozess des Empfangens, der sie mit dem bereichert, was der Geist bereits auf geheimnisvolle Weise in diese Kultur gesät hat. Auf solche Weise ,verschönert der Heilige Geist die Kirche, indem er ihr neue Aspekte der Offenbarung zeigt und ihr ein neues Gesicht schenkt'."
Die Erinnerung daran, dass die Kirche einen „Prozess des Empfangens“ „erlebt“ – im Englischen sind die Begriffe vielleicht schärfer: „Rezeptionsprozess“ und „unterworfen“; im Spanischen sind sie eher verwaschen – ist wichtig. Höchstwahrscheinlich geht es bei „Rezeption“ um mehr als ein „Verschönern“ der Gemeinde, da es ja um neue Aspekte der Offenbarung selbst in den gegebenen kulturellen Kontexten geht. Natürlich wird man noch eine Weile brauchen, um Querida Amazonia mit Tiefgang zu studieren, um ihre Vorschläge besser verstehen zu können.
Für die Steyler Missionare läuft dieser Rezeptionsprozess schon seit sehr langer Zeit unter dem Titel einer „Anthropos Tradition“ und gehört zu den grundlegenden Eigenheiten der Kongregation: Es geht um ein hingebungsvolles Studieren von Kulturen und Sprachen, Gebräuchen und Gewohnheit, das Herausarbeiten von Bedeutung und das Herstellen des Lebenssinns. Diese Ausgabe von Verbum SVD widmet sich dieser Fragestellung des Studiums von Kulturen und Völkern. Viele Missionare – auch die ad gentes – lernten im Umgang mit den Menschen in ihren Gemeinden, viele von ihnen haben sich „zu sehr angepasst“ und übernahmen „eigenartige Gewohnheiten“. Die ewige Auseinandersetzung über das Rauchen bei den Steylern (in der unglaubliche Mengen von Tinte bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgewendet wurden) ist ein lustiges Anschauungsbeispiel aus heutiger Sichtweise und dabei geht es um nichts weiter Transzendentales. Aber die Missionare nahmen auch viele neue Sichtweisen in einer Menge wichtiger Fragen des christlichen Lebens, der Gemeinschaftsbeziehungen und der Theologie an. Als zum Beispiel (als eine weitere Episode) das Anthropos-Institut in den 1960er-Jahren nach Sankt Augustin (Deutschland) übersiedelt wurde, errichtete man für seine Mitglieder ein eigenes Wohngebäude, um so die schlechten Einflüsse von der Hausgemeinschaft fernzuhalten. Diese Geschichte wurde unlängst wieder erzählt, als dieses Wohngebäude nach einer ausführlichen Renovierung wiedereröffnet wurde.
Offensichtlich führt eine ernsthafte Beschäftigung mit Menschen unterschiedlicher Kulturen und eine offene und positive Haltung ihren Weltsichten gegenüber in manchen Kreisen immer noch zu Ermahnungen zur Vorsicht – wie der Umgang mit dem Gedanken an die „Samenkörner des Wortes“ in den drei oben erwähnten Dokumenten zeigt. Mission und missionarisches Arbeiten bedeuten wohl, mit den Menschen in ihrer Situation auf dem Weg zu bleiben, ein kritisches Bewusstsein zu bewahren und mit ihren Gemeinschaften zu pflegen, sich an der Unterscheidung der Geister – und vor allem des Geistes – zu beteiligen und mit ihnen für ein Leben in Fülle zu kämpfen. Die positive Haltung in diesem Kampf würde darin bestehen, nicht nur auf Samenkörner des Wortes zu hoffen, sondern die Früchte anzunehmen, die bereits vorhanden sind.

Seite im Heft 303ff.