Editorial / Vorwort

Einführung in Heft 2-3/2020

Christian Tauchner SVD

Über die Möglichkeit von Verständnis
Im März 2020 hatten die meisten Gesellschaften und ihre Regierungen weltweit verstanden, dass etwas Kompliziertes in der Luft lag und ihnen für den Schutz von Leben und Zukunft große Eingriffe und Beschränkungen aufgezwungen würden. Das war auch die Zeit, als Spezialisten für Virologie und die Ausbreitung von Krankheiten ihre Erklärungen zu COVID-19 anboten. Ihre Ergebnisse waren relativ kohärent und irgendwie verständlich. Sie boten eine relativ sichere Grundlage für Politiker, ihre Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu begründen.

Mit der Zeit und der Zunahme der Forschungsergebnisse vergrößerte sich jedoch das Meinungsspektrum und wurde komplexer. Es hat wohl mit dem normalen Funktionieren von Wissenschaft zu tun: Die Forscher beobachten Details, nehmen neue Messungen vor, wiederholen ihre Experimente, formulieren ihre Forschungsfragen und vergleichen die Ergebnisse mit dem Bekannten. In der Anfangszeit im April tauchten in Deutschland eine Reihe widersprüchlicher Meinungen über die Masken und deren Nützlichkeit zum Schutz der Nutzer und der anderen auf. Jetzt, ein halbes Jahr später während der zweiten Ansteckungswelle, scheint es eine ziemlich verwirrende Vielfalt widersprüchlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse und eine daraus folgende Ratlosigkeit der Politiker zu geben. Die Wissenschaft scheint nicht hilfreich zu sein und der „Mann auf der Straße“ verliert die Orientierung und weiß nicht mehr, was man tun und wem man vertrauen soll.

Vor zwei Jahrhunderten reflektierte der deutsche Philosoph Friedrich Schlegel (1772–1829) auf die menschliche Fähigkeit, sich mit der Realität zu arrangieren:

"Einige Gegenstände des menschlichen Nachdenkens reizen, weil es so in ihnen liegt oder in uns, zu immer tieferem Nachdenken, und je mehr wir diesem Reize folgen und uns in sie verlieren, je mehr werden sie alle zu Einem Gegenstande, den wir, je nachdem wir ihn in uns oder außer uns suchen und finden, als Natur der Dinge oder als Bestimmung des Menschen charakterisieren. Andre Gegenstände würden niemals vielleicht unsre Aufmerksamkeit erregen können, wenn wir in heiliger Abgeschiedenheit jenem Gegenstand aller Gegenstände ausschließlich und einseitig unsre Betrachtung widmeten; wenn wir nicht mit Menschen im Verkehr ständen, aus deren gegenseitiger Mitteilung sich erst solche Ver-hältnisse und Verhältnisbegriffe erzeugen, die sich als Gegenstände des Nachdenkens bei genauerer Reflexion immer mehr vervielfältigen und verwickeln, also auch hierin den entgegengesetzten Gang befolgen."

Mit den politischen und sozialen Entwicklungen auch in anderen Bereichen jenseits des Virus – der Nachfolge von Präsidenten, der Klimadebatte, der Zukunft der Wirtschaft und der notwendigen Veränderung von Konsummustern, der sozialen Interaktion, kultureller Aktivitäten, der Gemeinschaftsbeziehungen in den Religionen, um nur einige zu nennen – hat die Ratlosigkeit zugenommen. Die Welt wird jeden Tag unverständlicher.

Schlegel äußerte sich zur wachsenden Komplexität des Verständnisses in Bezug auf eine Kontroverse über einen Text, den er veröffentlicht hatte und der wegen seiner Unverständlichkeit in Frage gestellt worden war. Wie Journalisten in unseren Nachrichtensendungen, die die Virologen immer wieder um einfache Ergebnisse und sofortige Formeln zur Lösung der Krisen bitten. Schlegel ist ein Philosoph – und ein deutscher noch dazu – und wird eine Niederlage aufgrund von Komplexität offensichtlich nicht hinnehmen:

"Aber ist denn die Unverständlichkeit etwas so durchaus Verwerfliches und Schlechtes? – Mich dünkt das Heil der Familien und der Nationen beruhet auf ihr; wenn mich nicht alles trügt, Staaten und Systeme, die künstlichsten Werke der Menschen, oft so künstlich, daß man die Weisheit des Schöpfers nicht genug darin bewundern kann. Eine unglaublich kleine Portion ist zureichend, wenn sie nur unverbrüchlich treu und rein bewahrt wird, und kein frevelnder Verstand es wagen darf, sich der heiligen Grenze zu nähern. Ja das Köstlichste, was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit selbst, hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte. Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fordert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde. Und ist sie selbst, diese unendliche Welt, nicht durch den Verstand aus der Unverständlichkeit oder dem Chaos gebildet?"

Eine dunkle Komplexität, die das Ganze in ihrer sichtbaren Heterogenität trägt und hält, bleibt der Anker für den Philosophen und ermöglicht es ihm, die unendliche Welt um ihn herum wieder aufzubauen und zu verstehen.

Diese Ausgabe von Verbum SVD widmet sich Museen als Räumen für Kommunikation und Begegnung mit Anderen in ihren komplexen und entfernten Unterschieden. Mehrere Autoren tragen ihre Reflexion über diesen Grundbaustein der angestammten Missionshäuser und Gemeinschaften bei, in denen die entfernten Anderen präsent und zugänglich gemacht wurden. Es stimmt, Museen waren lange europäische Institutionen, daher überrascht es nicht, dass die Autoren überwiegend Europäer sind. Dennoch deckt diese Ausgabe viel SVD-Geschichte ab, die bis zum Gründer, zu Wilhelm Schmidt SVD und zur anthropologischen Tradition in der Gesellschaft reicht. Ein interessanter Aspekt ist die kurze Reflexion von Jeremiah Kaumbal SVD: Er lebte während seines OTP in der Gemeinschaft von St. Augustin und besuchte dort das Museum – es stellte sich im ersten Moment als ziemlich schockierend heraus, auf kulturelle Artefakte aus seinem fernen Land und seiner fernen Vergangenheit zu stoßen.

Weitere Artikel beschäftigen sich mit der kreativen Wiederverwendung alter Missionshäuser – vielleicht passend in einer Ausgabe über Museen. Im Steyler Missionswissenschaftlichen Institut haben wir kürzlich die Korrespondenz von Bischof T. Schu in deutscher Sprache veröffentlicht. Andrzej Miotk SVD betreute die Ausgabe und um einen Überblick über dieses missionarische Engagement „nach China“ und dieses Jahrzehnt der missionarischen Korrespondenz zu geben, wird die Einführung in das Buch hier auf Englisch gebracht.

Ich kehre zu einer optimistischen Haltung von Schlegels Diskurs über Unverständlichkeit zurück: „Was kann wohl von allem, was sich auf die Mitteilung der Ideen bezieht, anziehender sein als die Frage, ob sie überhaupt möglich sei; und wo hätte man nähere Gelegenheit über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit dieser Sache mancherlei Versuche anzustellen, als wenn man ein Journal […] entweder selbst schreibt, oder doch als Leser an demselben teilnimmt?“

Ich bin fest davon überzeugt, dass der Kommunikationsraum der Museen und die entsprechende Reflexion in Verbum SVD eine attraktive Option ist.
                                                                                                      Christian Tauchner SVD

Seite im Heft 163ff.