Editorial / Vorwort

Einführung in Heft 1/2021 von Verbum SVD. Es geht um die Relevanz von Glauben und Mission aus unterschiedlichen Perspektiven, zudem gibt es einen Nachruf auf P. Franz-Josef Eilers SVD.

Christian Tauchner SVD

Die Relevanz des Glaubens
Mission stand lange im Dienst der Absicht, Kulturen in einer Weise zu organisieren und zu verändern, dass ihre Werte und Bezugspunkte für das Leben durch christliche Normen bestimmt würden – im besseren Fall durch die Nachfolge Jesu Christi in kulturell eingebetteter Kreativität und Erneuerung, im schlechteren Fall in einer Anpassung an die hegemonischen Formen einer europäisch konfigurierten Kirche, die sich selbst für eine societas perfecta hielt. Seit geraumer Zeit ist es allerdings offensichtlich geworden, dass das Christentum und die Kirche ihre Fähigkeit eingebüßt haben, die Gesellschaften zu bestimmen und eine hegemonische Kontrolle über die Menschen auszuüben. Gott sei Dank, möchte man sagen.
Die Funktion hegemonischer Kontrolle der Gesellschaften liegt jetzt bei einem „kulturell hegemonischen Kapitalismus“. „Der Kapitalismus ist seit längerem mehr als nur eine spezifische Weise, die Ökonomie zu organisieren, weit mehr. Er soll hier […] als die ‚gewinnorientierte Verwaltung der Welt’ bestimmt werden. Klassische kapitalistische Prinzipien, wie etwa Ich-bezogene Wettbewerbsorien-tierung, umfassende Kommodifizierung und extrinsische Motivati-onsanreize, sind dabei aus dem schon länger kapitalistisch operie-renden ökonomischen Sektor in die allgemeine Lebensführung und ihre gesellschaftlichen Manifestationen, also in die Kultur, gewandert. Man wird davon ausgehen müssen, dass der Kapitalismus zu einem hegemonialen kulturellen Muster menschlicher Existenz geworden ist“, hält Rainer Bucher in seiner Studie zum Christentum im Kapitalismus fest.
In diesem Zusammenhang kehrt Bucher auf eine Überlegung Walter Benjamins zurück, der in einem kurzen Fragment von nur zwei Seiten den „Kapitalismus als Religion“ beschrieb, genau vor 100 Jahren. Benjamin überlegt: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d. h., der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben. […] Drei Züge jedoch sind schon in der Gegenwart an dieser religiösen Struktur des Kapitalismus erkennbar. Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung. Mit dieser Konkretion des Kultus hängt ein zweiter Zug des Kapitalismus zusammen: die per-manente Dauer des Kultus. Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci. Es gibt da keinen ‚Wochentag‘. […] Dieser Kultus ist zum dritten verschuldend“, und darin ist auch Gott eingeschlossen. „Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, dass Religion nicht mehr Reform des Seins sondern dessen Zertrümmerung ist.“
Unter der Herrschaft des Kapitalismus verschwindet die Religion nicht, aber sie wird deutlich relevanzgemindert. Sie wird in ihrer Bedeutung durchschnittlich hinter Partnerschaft, Bildung, Familie, Arbeit, Freizeit und selbst noch hinter der Politik einsortiert. „Der Kapitalismus macht, was alle Souveräne tun, er macht sich die anderen untertan, auch die Religion“, hält Bucher fest. Manche pentekostale Kirchen und ihre Ausrichtung auf Prosperität bestätigen deutlich diese Analyse. Allerdings zeigen Studien auch: „Die Mitgliederzahlen der betont glaubensfesten Freikirchen und evangelikalen Gemeinschaften in Deutschland stagnieren auf niedrigem Niveau. Diese Gruppen erschließen offenkundig nicht neue Milieus, sondern lösen aus den Volkskirchen kleine Teile heraus, ohne die Großkirchen wirklich beeinflussen zu können. Auch Esoterik und Okkultismus sind offenkundig keine gesellschaftlich relevanten Religionsalternativen zu den Kirchen.“ „Der kulturell hegemoniale Kapitalismus hat die kirchlichen Kathedralen irreversibel ruiniert: Schlusspunkt einer langen Macht- und Entmachtungsgeschichte der Religion in Europa. Seit der Spätantike hatte die westliche christliche Kirche in West- und Mitteleuropa die Dominanz über die Diskurse des Wissens, über die Ordnung der Gesellschaft und über die Praktiken des individuellen Handelns beansprucht. Nach und nach, wenn auch nie vollständig und in unterschiedlichen europäischen Regionen in unterschiedlicher Form und Stärke, hatte sie diesen Anspruch auch durchsetzen können.“
Die pandemiebezogenen Verschiebungen im kirchlichen Gemeindeleben, in Gottesdiensten und in der Umsetzung von Glaubensperspektiven im Alltagsleben haben diese Tendenzen verstärkt. Die Verlagerung von Beziehungen und Kontakten in digitale Kanäle weiten die individualistische und abgrenzende Version von Glaube und Kirche aus. So finden wir uns in einer Welt, die aufgespalten ist in solche, „die zu viel glauben, und jene, die zu wenig glauben. Während manche gar keine Überzeugungen mehr haben, sind andere übervoll von leidenschaftlicher Hingabe: Menschen, die ihr Vertrauen nur noch auf Macht und Profit setzen, und andere, die sich über die Folgen dieses moralischen Vakuums empören und dabei Lehren verbreiten, die kleine Kinder in die Luft sprengen können“, in Terry Eagletons Sichtweise nach der Verabschiedung Gottes.
Gibt es einen Ausweg? Welche Möglichkeit besteht noch für den Glauben? Ein Weg ist Prophetie. Sie bricht die Sprachlosigkeit auf und schließt die Lücke, die das Kerygma lässt, um eine neue, aber glaubensgemäße Praxis zu ermöglichen. Prophetie bringt die Botschaft neu, überraschend, umstritten und prekär zur Geltung. Sie stellt sich gegen die alten Institutionen des Glaubens, insofern diese die Tradition hinsichtlich spezifischer Herausforderungen nicht mehr wirklich vergegenwärtigen, aber sie stellt sich auch gegen jene, die diese Vergegenwärtigung nicht mehr für möglich halten.
Es ist auch möglich, den Kapitalismus zu kritisieren, und eher unerwarteterweise hat Papst Franziskus diese Option getroffen und wird deswegen auch deutlich angegriffen, weil er da an einem Tabu rüttelt. In Laudato si’ und noch mehr in Fratelli tutti ist seine Kritik ziemlich deutlich. Oft lassen Gläubige dann verlauten, der Papst solle eher bei seinem Leisten bleiben und sich nicht in Themen einmischen, die er nicht versteht. „Franziskus aber, und das ist sein revolutionärer Neuansatz, regiert die katholische Kirche institutionell nicht mehr primär mit dem Prinzip von Über- und Unterordnung, kognitiv nicht mehr mit dem Prinzip von naturwissenschaftsanaloger Eindeutigkeit und sozial nicht mehr mit dem Prinzip klarer Einschluss- und Ausschlussregeln, sondern indem er die Inhalte des Glaubens als soziale Interventionspraktiken begreift und das auch selbst in symbolischen Zeichenhandlungen auf der globalen Bühne so demonstriert. Dieser Ansatz bedeutet auch die Verpflichtung der Kirche, sich an den Rändern und Grenzen ihrer selbst zu entdecken, weil sie dort ihre Aufgaben findet und weil sie nur über ihre Aufgaben sie selber wird.“ „Dieser Papst stellt nach Jahrhunderten, da seine Kirche der Welt ziemlich direktiv, wenn auch meist folgenlos, vorschreiben wollte, wie sie zu sein habe, nun an seine Kirche die Frage, was denn die Welt von ihr brauche, und er reist deshalb ständig an jene Orte der Welt, von denen aus sich diese Frage stellt, weil sie von ihnen aus einfach gestellt werden muss. Das markiert die Orte, von denen aus das Christentum sprechen und denken kann, damit es Christus thematisiert und nicht die eigenen Befindlichkeiten, Abstiegsängste oder kompensatorischen Gemeinschaftseuphorien, allesamt letztlich hilflose Gesten angesichts des neuen Souveräns Kapitalismus.“
Bucher schlägt als pastorale Strategien unter anderen eine Wiederaufnahme der Prophetie sowie die Beschäftigung mit Kunst als einem Widerstandsbereich vor. Und er glaubt, dass es notwendig ist, eine politische Haltung des Glaubens einzunehmen: „Solch ein neuer politischer Katholizismus dürfte dabei nicht kulturpessimistisch mit verflossenen, vorkapitalistischen katholischen Retro-Utopien arbeiten, aber auch nicht mit nur mühsam verdeckter prokapitalistischer Affirmation des Bestehenden unter pseudo-christlicher Deckung, jenen Versuchungen, denen die real existierende Christdemokratie gegenwärtig weitgehend erliegt. Er hätte vielmehr immer wieder einzubringen, was der Kern des christlichen Glaubens ist: die liebende Aufmerksamkeit auf alle und jeden, so wie sie sind: schwache, verletzliche, erlösungsbedürftige, in Jesus Christus aber eben auch erlöste Kinder Gottes. Mit anderen Worten: Er wäre nicht ‚Vorfeld‘ der Kirche, sondern der politische Teil ihrer Mission.“
Bucher vertraut darauf, dass der christliche Glaube einen großen Schatz an Ressourcen an Spiritualität und Solidaritätspraktiken hat, um die Sackgassen kapitalistisch hegemonialer Sichtweisen vermeiden zu können. Die „Option für die Armen“ ist eine solche grundlegende Perspektive. In den Worten von Papst Paul VI. in einem Diskurs vor Kleinbauern in Kolumbien: „Ihr seid ein Zeichen, ein Abbild, ein Mysterium der Präsenz Christi. Das Sakrament der Eucharistie bietet uns seine verborgene Gegenwart an, lebendig und real; ihr seid auch ein Sakrament, d. h. ein heiliges Abbild des Herrn in der Welt.“
Von dort her und bei ihnen ist Glaube relevant.

Seite im Heft 5ff.