Editorial / Vorwort

Verschiedene Artikel zum Thema Mission.

Christian Tauchner SVD

Zwischenräume von Störungen
Matsutake ist der Name eines Pilzes, der in Japan sehr geschätzt wird. Er wächst wild in Wäldern mit bestimmten Kiefern. In der japanischen Kultur gibt es uralte Traditionen, die sich um den würzig-aromatischen Geruch dieser Pilze ranken (in vielen anderen Ländern wird dieser Geruch als höchst unangenehm empfunden), die weit mehr als nur etwas Essbares sind. Einige wenige Exemplare dieses Pilzes können in Japan für 150 Euro und mehr verkauft werden, sie sind also nicht nur eine Ware, sondern werden als Geschenk verwendet, um in sozialen und geschäftlichen Beziehungen eine hohe Wertschätzung auszudrücken. Bisher war es nicht möglich, Matsutake in Plantagen und unter kontrollierten Bedingungen zu produzieren – die Sammler sind bei der Beschaffung völlig auf die Natur und das Glück angewiesen. Inzwischen ist der Pilz in Japan aufgrund des übermäßigen Sammelns nur noch selten anzutreffen, aber man findet ihn auch in Teilen Chinas, Koreas und Vietnams, in Finnland und in Oregon (USA). Er wächst nur in der nördlichen Hemisphäre in rauen Umgebungen.
Die kalifornische Anthropologin Anna L. Tsing lernte diesen Pilz erstmals in den USA kennen. Ihr chinesischer Familienhintergrund und ihr Beruf als Anthropologin brachten sie auf die Spur von Pilzsammlern in den USA – oft ehemalige Soldaten des Vietnamkriegs und Flüchtlinge aus demselben Krieg aus Laos, Thailand und Vietnam – sowie von japanischen Forstwächtern und Matsutake-Konsumenten. Ihr faszinierender Bericht enthält viele Daten und Überlegungen zur Biologie und zu den besonderen Merkmalen der Pilze im Allgemeinen sowie ethnografische Beobachtungen, Erläuterungen zu den Wäldern und zu den Auswirkungen der Holzindustrie. Da der Matsutake-Handel zu unbedeutend ist, um von den großen Industrie-, Handels- und Bankunternehmen ernst genommen zu werden, hat keiner dieser Akteure eine übergreifende Vorgehensweise für diesen Handel entwickelt. Für A. Tsing ist genau dies eine Voraussetzung für die freie Artikulation eines Marktes rund um den Matsutake, die ihr ungeahnte Einblicke in das Wesen des Spätkapitalismus ermöglicht. Daher auch der Titel ihrer Studie: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus.
Sie stellt fest, dass eine der ersten Pflanzen, die nach der Atombombe von Hiroshima auftauchten, ausgerechnet ein Matsutake war – für Japaner keine wirkliche Überraschung, sondern ein Versprechen auf zukünftiges Leben. Matsutake wachsen in verwüsteten Wäldern (aufgrund von industrieller Ausbeutung), nach Waldbränden oder Erdrutschen. Es ist ein Pilz, der dort gedeiht, wo die Welt untergegangen ist. Wie andere Pilze sind sie an der Umwandlung von Gestein und Erde beteiligt und arbeiten mit den Wurzeln von Sträuchern und Bäumen in komplizierten Verflechtungen und Symbiosen zusammen, die die Biologie und verwandte Wissenschaften erst jetzt zu untersuchen und zu verstehen beginnen. In diesen Symbiosen wird deutlich, wie tief alle Lebensformen miteinander verwoben und voneinander abhängig sind, auch die Menschen und ihre Gesellschaften – eine unerwartete Bestätigung von Anregungen und Einsichten, die Papst Franziskus in Laudato si‘ und Querida Amazonia geäußert hat und die in vielen kirchlichen Kreisen noch auf eine tiefere Rezeption warten.
Störungen
Natur und Umwelt befinden sich nirgendwo in einem homogenen Zustand. Schon immer gab es Störungen durch Naturereignisse und natürlich auch durch menschliche Eingriffe. Für A. Tsing sind gestörte Landschaften ideale Orte für geistes- und naturwissenschaftliche Wahrnehmung. Sie entdeckte, „dass ‚Störung‘ sowohl Koordinierung als auch Geschichte bedeuten kann“:
Störung bedeutet eine Veränderung der Umweltbedingungen, die wiederum eine deutliche Veränderung in einem Ökosystem verursacht. Überschwemmungen und Brände sind Störungen; auch Menschen und andere Lebewesen können Störungen verursachen. Störungen können Ökosysteme erneuern oder auch vernichten. Wie verheerend eine Störung ist, hängt von vielen Faktoren, auch von der Größenordnung ab. Manche Störungen sind klein: ein Baum, der in einem Wald umfällt und dem Licht eine Schneise schlägt. Manche sind gewaltig: ein Tsunami, der ein Atomkraftwerk demoliert. Auch zeitliche Maßstäbe spielen eine Rolle: Auf kurzfristige Beschädigungen mag ein üppiger Neubewuchs folgen. Störung öffnet das Gelände für sich wechselseitig verändernde Begegnungen, die neue landschaftliche Gefüge möglich machen (214f.).
Vielerorts erleben wir Störungen und Unterbrechungen: Das friedliche Zusammenleben in vielen Ländern, die reibungslose Abwicklung sozialer Beziehungen oder die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern sind keineswegs mehr in gewohnter Weise möglich. Vielmehr kommt es zu Konflikten, Gegensätzen und Machtkämpfen, zu sozialen Spannungen, die durch den Corona-Virus und die Auflösungen von Handelsbeziehungen auf allen Ebenen noch verschärft werden. Zum Zeitpunkt des Schreibens (gegen Ende Februar 2022) treibt der Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine die schreckliche Realität von Störung in unvorstellbare Dimensionen, die einen verständigen Umgang damit als Begriff nicht mehr erlauben. Auf einer doch ganz anderen Ebene leidet die katholische Kirche unter solchen Störungen mit den Skandalen um sexuelles Fehlverhalten und Kindesmissbrauch, einschließlich der Dekonstruktion des Ansehens von Papst Benedikt XVI., um nur einige zu nennen. Gibt es noch einen Weg in die Zukunft? Was wird die Aufgabe der Jünger sein, jenseits der Verwirrungen unserer Zeit?
Es scheint klar zu sein, dass es an den Rändern – „am Ende der Welt“, wie Tsing es nennt – und in den Zwischenräumen der Hindernisse auf dem ebenen Weg in die Zukunft „Möglichkeiten des Lebens“ in den Ruinen gibt. Das knüpft an die Ermutigung von Papst Franziskus an, dass die Kirche ein Feldlazarett werden und verbeult, verletzt und beschmutzt sein soll, nicht wegen ihrer ruinösen Selbstbezogenheit, sondern wegen ihres Engagements für Menschen und Kontexte an den Rändern (vgl. Evangelii gaudium 49). Sie knüpft auch an Johann B. Metz mit der kürzesten Definition von Religion als „Unterbrechung“ an (in Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 1992).
A. Tsing sieht den Platz des menschlichen Akteurs innerhalb eines unendlichen Netzes von Beziehungen. Störungen sind in erster Linie nicht Hindernisse und Hemmnisse, sondern Wegweiser zu Veränderung und Innovation:
Humanwissenschaftler, die nicht mit dem Begriff der Störung zu operieren gewohnt sind, assoziieren ihn mit Beschädigung. Störung im Sinne der Ökologen ist jedoch nicht immer schlecht – und nicht immer menschlichen Ursprungs. Nicht nur durch Menschen verursachte Störungen sind mächtig genug, ökologische Beziehungen durcheinanderzubringen. Zudem findet die Störung, als Anfang, immer inmitten der Dinge statt: Der Ausdruck verweist nicht auf einen der Störung vorausgehenden harmonischen Zustand. Störungen folgen auf andere Störungen. Von daher sind alle Landschaften gestört; Störung ist der Normalfall. Wird Störung als Problem ins Spiel gebracht, bringt das die Diskussion nicht zum Erliegen, sondern öffnet sie und versetzt uns in die Lage, landschaftliche Dynamiken zu erforschen. Ob eine Störung verkraftbar ist oder nicht, zeigt sich an dem, was auf sie folgt: an der Art, wie sich Gefüge umgestalten. In der Ökologie wurde Störung zum Schlüsselbegriff, als man in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften damit begann, über Instabilität und Wandel nachzudenken (215).
Matsutake zu finden ist kein selbstverständlicher Erfolg bei einem Sonntagnachmittagsspaziergang durch den Wald, es erfordert alle Sinne und viel Erfahrung: Es kann sein, dass es andere Pflanzen oder Tiere gibt, die auf die überraschende Anwesenheit des Pilzes hindeuten. Es setzt voraus, dass man den Boden, auf dem er wachsen könnte, ertastet und fühlt. Man muss auf überraschende Veränderungen in der Umgebung achten, die das versteckte Vorhandensein des Pilzes andeuten.
In ähnlicher Weise erfordert Mission viel Sensibilität, Engagement und Interaktion mit allen möglichen Akteuren in einem weiten Feld gesellschaftlicher Beziehungen. Die Störungen und Unterbrechungen der bisherigen gewöhnlichen Abläufe sind vielleicht keine definitiven Katastrophen, sondern im Gegenteil die Eröffnung neuen Lebens, von den Enden der Welt und in den Ruinen des bekannten Systems.

Seite im Heft 5ff.