Einführung in die Zeitschrift "Verbum SVD" 2/2016.
Widersprüchliche Zeiten
Wir leben in einer Zeit von Widersprüchlichkeiten. Viele Regierungen Europas wiederholten ihre Genugtuung über die Wiederherstellung der Demokratie in der Türkei nach dem letzten versuchten Militärputsch – nur um zu erleben, wie Präsident Erdogan jetzt in die Richtung einer autoritären Machtausübung geht, die mit Demokratie nichts zu tun hat. Ähnlich steht in der nordamerikanischen Präsidentschaftswahl allen Ernstes die Kandidatur von Donald Trump im Raum – nicht gerade der weltgewandte Anführer zum Weltfrieden, den man eventuell gern im Weißen Haus sähe. In Europa wurde lange über eine größere Zusammengehörigkeit und offene Grenzen und Räume nachgedacht und entsprechend gehandelt – aber das Errichten von Mauern und Zäunen ist neuerdings modern und politisch „unvermeidlich“ geworden, seit es darum geht, Flüchtlinge und Migranten auf ihrem Weg nach Europa aufzuhalten, in manchen Orten sogar unter der Flagge, dass man die christliche Tradition des Abendlandes retten müsse.
Solche Widersprüchlichkeiten sind nicht unbedingt etwas Neues, weder im persönlichen Leben eines jeden von uns, noch in sozialen Beziehungen, in die wir eingebunden sind. Vor 700 Jahren, Anfang 1316, starb Ramon Lull auf seiner Heimatinsel Mallorca – eine unglaublich interessante und kreative Person. Sein Leben lässt sich auch unter der Perspektive von Widersprüchlichkeiten darstellen: Höchst engagiert für den Dialog – er hat tatsächlich höchst gewagte kreative Zugänge zu Dialog und Begegnung mit dem Anderen entwickelt –, trat er dennoch für Kreuzzüge ein. Er legte eine große Hochachtung für die Anderen mit ihren Kulturen und Weisheitstraditionen an den Tag – deswegen lernte er Arabisch und konnte es offenbar recht gut, um in der Sprache der Anderen mit ihnen in Dialog treten zu können – und betete und sehnte sich dennoch nach einer doch sehr homogenen und uniformen Einheit der Menschen unter einem Glauben – und damit meinte er selbstverständlich den christlichen Glauben. Er bekannte sich zu größtem Vertrauen in die Rationalität und baute eine Maschine, um damit die Komplexität des Universums auf elementare Begriffseinheiten zu reduzieren und zu verbindlichen und sicheren logischen Schlüssen zu kommen – aber er widmete viele seiner Bücher einer mystischen Sentimentalität, wie man heutzutage seine Aphorismen etwa im Buch vom Liebenden und Geliebten lesen würde.
Zwei Beiträge in dieser Ausgabe des Verbum SVD feiern den 700. Todestag dieses bedeutenden Missionars, Missionsstrategen und Dialogtheoretikers (um nur einige wenige Fachgebiete zu nennen, zu denen Lull wichtige Beiträge geleistet hat).
Auch die anderen Beiträge des Hefts könnte man unter die Perspektive widersprüchlicher Erscheinungen einreihen: „Mission“ und „Respekt“ (in Beziehung zur Religion und Kultur der Anderen) werden oft als Gegensätze gesehen, nicht als zusammengehörende Begriffe. Und doch gibt es ein wichtiges Programm, das die Prinzipien und Folgen für die Mission darstellt, wenn sie in Respekt und wirklicher Treue zu unserer christlichen Tradition durchgeführt wird. Dieses Programm wurde gemeinsam vom Päpstlichen Rat für Interreligiösen Dialog, vom Weltkirchenrat und der Evangelischen Weltallianz erarbeitet – eine überraschend weite Sichtweise von Mission.
Wir berichten auch von einem deutschen Dokument über „Religion“ und „Gewaltlosigkeit“, auch das ein Paar anscheinender Widersprüchlichkeit. Es kommt von Katholiken und Muslimen, die feststellen, dass sich Gewalt nicht auf religiöse Gründe und Rechtfertigungen berufen darf. Vielleicht ein kleines Dokument, aber in Zeiten wachsender Gegenüberstellung von Religionen und einer um sich greifenden Angst vor terroristischen Bedrohungen mit religiösen Erscheinungsformen sind auch kleine Hoffnungszeichen wichtige Orientierungspunkte. Schließlich noch eine Widersprüchlichkeit: das Pastoralinstitut Lumko blickt auf eine über 60-jährige Geschichte unglaublichen Erfolgs zurück, aber im Moment scheint es in Frage gestellt und sein Weg in die Zukunft nicht klar zu sein.
Eine Zeit für Optionen
Jetzt ist es so, dass Widersprüche nicht immer und nicht unbedingt das Ende sind. Ramon Lull lebte in einer Zeit, in der er tatsächlich das Erbarmen der missionarischen Bekehrung und die Gewalt eines Kreuzzugs im weiteren einheitlichen Horizont von Heil und Rationalität zusammenbrachte. Mit der Dialektik in der Philosophie wurde es möglich, dass gegensätzliche Elemente ihre Widersprüchlichkeit bis in ihre weitesten Konsequenzen ausentwickeln und dann in ihrer Aufhebung auf einer höheren Ebene von Komplexität und Vollständigkeit in eins fallen. Christlich gesagt, schaut die Apokalypse durch die offensichtliche Gewalt der Gegenwart hindurch auf die dahinter und tiefer liegende Erlösung.
In dieser Zwischenzeit ist die Widersprüchlichkeit auch eine Zeit für Optionen: Missionare sind von den Herausforderungen des Dialogs angesprochen, es geht darum, die Anderen in ihren Sprachen und Kulturen zu verstehen, die Diversität von Religionen und Glaubensüberzeugungen wertzuschätzen, ohne die Sichtweise auf Menschlichkeit und Solidarität aus dem Blick zu verlieren, und sich jeder Gewalt zu widersetzen, besonders, wenn sie sich auf Religionen stützen will.
Times of Contradiction
Ours are times of contradiction. European governments have in-sisted how much they appreciate the restoration of democracy in Turkey after the latest military attempt to overthrow the government—however, President Erdogan is taking steps towards authoritarian rule quite opposed to democracy. Similarly, the presidential election in the USA is considering seriously the candidacy of Mr Donald Trump—not quite the cosmopolitan leader towards peace one might want to see in the White House. In Europe, there used to be a lot of reflection and action towards major integration and opening spaces for people to move freely—but recently, building walls and fences has become quite fashionable and politically “unavoidable” in order to exclude the refugees and migrants on their way to Europe, in some places even in order to save the Christian tradition of the West.
Such contradictions are not entirely new, neither in the personal life of any of us nor in social contexts we know. Seven hundred years ago, in early 1316, Ramon Llull died in his native Mallorca—an extremely interesting and creative personality. His life can be present-ed under the perspective of contradictions: Highly engaged in dia-logue—and indeed, he developed daringly creative approaches to dialogue and encounter with the other—he was still an advocate of crusades. He professed great esteem for the others in their cultures and wisdom traditions—therefore he studied Arabic and may have been quite proficient in it, in order to be able to dialogue with the others in their own terms—and still he prayed and longed for a probably highly uniform unity of humanity under one faith—Catholic Christianity, without any doubt. He professed the deepest trust in rationality and built a machine to reduce the complexity of the universe to elementary conceptual units and to be able to arrive at binding logical and univocal conclusions—but dedicated many of his books to mystical sentimentality, as one might read today his aphorisms in the Book of the Lover and the Beloved.
Two contributions in this issue of Verbum SVD mark the 700th anniversary of this seminal missionary, mission strategist and theoretician of dialogue (to mention only a few of the fields Llull made important contributions to).
Several other articles might also be seen in the light of contradictory appearances: “mission” and “respect” (for the religion and culture of the other) are frequently considered as oppositions rather than going together in unity. However, there is an important programme laying out the principles and consequences of mission practiced in respect and, indeed, faithfulness to our Christian tradition. The programme has been set up jointly by the Pontifical Council for Interreligious Dialogue, the World Council of Churches and the World Evangelical Alliance—a surprisingly wide perspective on mission.
There is also a report on a German document on “religion” and “nonviolence,” yet another couple of seemingly contradictory terms. It stems from Catholics and Muslims stating that violence has no right in claiming religious justification and legitimation. It may be a small contribution, but in times of growing opposition of religions and widespread fear of terrorist threats under religious appearance even small signs of hope are important. Last but not least with regard to contradictions, the pastoral Institute Lumko has over 60 years of an incredible success history to its credit, but at the moment there seems to be a hiatus and the question of how to proceed into an uncertain future.
A Time for Options
However, contradictions are not always and necessarily dead ends. Ramon Llull lived in a time when he actually brought together the mercy of missionary conversion and the violence of a crusade within a larger horizon of the unity of salvation and reason.
With dialectic philosophy it has also become possible that oppos-ing elements might develop their contradictions into their deepest consequences and then coincide as their sublation brings them into a new level of complexity and fullness. In Christian terms, the Apocalypse suggests looking beyond the apparent violence of the present and trusting the deeper redemption.
Meanwhile, living in times of contradictions is a time for options: Missionaries are called to take up the challenges of dialogue, to try to understand the others in their languages and cultures, to appreciate the diversity of religions and faith convictions without losing the perspective of humanity and solidarity, and to oppose any violence, particularly on grounds of religion.
Seite im Heft 137ff.