Editorial / Vorwort

Editorial zu Heft 4/2021 von "Verbum SVD" mit Artikeln zur Enzyklika "Fratelli tutti".

Christian Tauchner, SVD

Ermutigung zur Mission von den Rändern zu globalen Perspektiven
Bemerkenswerterweise kommt in der gesamten Enzyklika Fratelli tutti (FT) von Papst Franziskus das Wort „Evangelisierung“ überhaupt nicht vor und es gibt nur zwei Verweise auf „Mission“: in FT 114, wo von den Familien und ihrer „vorrangigen und unabdingbaren Erziehungsaufgabe“ [in anderen Sprachen steht hier „Mission“] die Rede ist, und in FT 276, wo es heißt, dass die Kirche „die Autonomie der Politik [respektiert], aber ihre eigene Mission nicht auf den privaten Bereich [beschränkt]“. Dennoch geht die Enzyklika auf viele Bereiche und Szenarien ein, in denen das missionarische und evangelisierende Engagement von missionarischen Jüngern und Jüngerinnen zum Handeln, zur Mitwirkung und zum Zeugnis gefragt ist. Es geht um diese Einsicht: Die Kirche „kann und darf beim Aufbau einer besseren Welt nicht abseits stehen, noch darf sie es versäumen, ,die seelischen Kräfte [zu] wecken‘, die das ganze Leben der Gesellschaft bereichern können. Es stimmt, dass religiöse Amtsträger keine Parteipolitik betreiben sollten, die den Laien zusteht, aber sie können auch nicht auf die politische Dimension der Existenz verzichten, die eine ständige Aufmerksamkeit für das Gemeinwohl und die Sorge um eine ganzheitliche menschliche Entwicklung umfasst. Die Kirche ,hat eine öffentliche Rolle, die sich nicht in ihrem Einsatz in der Fürsorge oder der Erziehung erschöpft‘, sondern sich in den ,Dienst der Förderung des Menschen und der weltweiten Geschwisterlichkeit‘ stellt“ (FT 276, mit Verweisen auf Deus caritas est und Caritas in veritate von Benedikt XVI. sowie auf die Politeia von Aristoteles).
Wir leben offenbar in einer Welt mit eher begrenzten Sichtweisen: „In jenen Tagen waren Worte des HERRN selten; Visionen waren nicht häufig“ (1 Sam 3,1). Die Pandemie offenbart immer wieder tiefere Strukturen unserer Gesellschaften, wie z. B. die äußerst komplexe Verflechtung der industriellen Produktion im globalen Maßstab, die selbst in fortgeschrittenen Ländern wie Deutschland die Möglichkeiten für nationale Optionen einschränkt; die wachsende Kluft zwischen den wenigen Reichen, die immer reicher werden, und den Armen, die durch den Zusammenbruch der Gesundheitssysteme immer mehr an den Rand gedrängt werden, bis hin zu ihren anonymen Massengräbern, wie etwa in Manaus (Brasilien). [...]
Fratelli tutti eröffnet einen anderen Horizont. Sie baut auf Laudato si’ auf und betont, dass es nur eine einzige Krise in der ganzen Welt gibt, da alles miteinander zusammenhängt: „Es gibt nicht zwei Krisen nebeneinander, eine der Umwelt und eine der Gesellschaft, sondern eine einzige und komplexe sozio-ökologische Krise. Die Wege zur Lösung erfordern einen ganzheitlichen Zugang, um die Armut zu bekämpfen, den Ausgeschlossenen ihre Würde zurückzugeben und sich zugleich um die Natur zu kümmern“ (LS 139). FT betrachtet unsere zersplitterte Welt: „Wir [stellen] das Fehlen von Horizonten fest, die uns zur Einheit zusammenführen“ (FT 26). Es gibt „Tendenzen, die auf eine Homogenisierung der Welt abzielen, [es] treten Machtinteressen hervor, die von der geringen Selbstachtung profitieren, während gleichzeitig über Medien und Netzwerke versucht wird, eine neue Kultur im Dienst der Mächtigeren zu schaffen“ (FT 52).
Der zentrale Beitrag von FT liegt in der Anregung, unsere Gesellschaften und die ganze Welt in einer Perspektive von Solidarität, Barmherzigkeit und Gemeinschaft neu zu gestalten, die die Christen das Reich Gottes nennen würden. [...]
Von Anfang an liegt das Zentrum dieses missionarischen Ansatzes, die Welt anders zu gestalten, an den Rändern: FT beginnt mit der Episode des heiligen Franziskus und seiner Begegnung mit Sultan Malik-el-Kamil. Ohne ihre „Identität [zu] verleugnen, [sollen die Franziskaner] weder zanken noch streiten, sondern um Gottes Willen jeder menschlichen Kreatur untertan [sein]… Es berührt mich, wie Franziskus vor achthundert Jahren alle dazu einlud, jede Form von Aggression und Streit zu vermeiden und auch eine demütige und geschwisterliche ‚Unterwerfung‘ zu üben, sogar denen gegenüber, die ihren Glauben nicht teilten“ (FT 3). Diese demütige Unterwerfung bedeutet nicht, die Augen vor der Situation in unserem globalisierten Weltsystem zu verschließen. [...] Daher setzt sich FT erneut kritisch mit einem Wirtschaftssystem auseinander, das das Gemeinwohl nicht berücksichtigt. FT kritisiert eine Konsumkultur, die sich nicht scheut, die natürlichen Ressourcen über alle Maßen auszubeuten. [...]
Auch der Verweis auf eine Utopie und eine Vision für die gesamte Menschheit kommt in unserer Zeit nicht gut an: „In der gegenwärtigen Welt nimmt das Zugehörigkeitsgefühl zu der einen Menschheit ab, während der Traum, gemeinsam Gerechtigkeit und Frieden aufzubauen, wie eine Utopie anderer Zeiten erscheint“ (FT 30). Dennoch stützt sich FT fest auf solche Perspektiven, die „noch nicht“ umgesetzt wurden. [...]
Für die Mission und missionarische Jünger und Jüngerinnen ist dies eine gute Nachricht und eine Ermutigung: FT ist ein Aufruf, die Augen zu öffnen, den Blick auf die Wegränder von Kirche und Gesellschaft zu richten, eine Option für die Armen ernst zu nehmen, sich an die Ränder zu stellen, sich für die Umgestaltung der Gesellschaft nach den Idealen des Reiches Gottes einzusetzen, und das alles unentgeltlich (FT 139).

Seite im Heft 369ff.